Karsten Lemm

Erlebnis: Journalismus

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Lady Gaga, Kreuzfahrtkapitäne und IMAX-Kinos profitieren alle von demselben Phänomen: Die Warenwirtschaftverwandelt sich in eine Erlebniswirtschaft. Produkte sind flüchtig, aber wertvoll – schöne Augenblicke und lebenslange Erinnerungen. Viele Menschen sind bereit, mehr für solche Erlebnisse zu zahlen als für etwas, das sie in Händen halten können. Das gilt besonders für Medien. Musik, Nachrichten und Bilder verlieren durch die Informationsflut im Internet dramatisch an Wert – während unwiederbringliche Momente, die sich nicht per Link verschicken lassen, an Bedeutung gewinnen.

Dieselben Menschen, die nie auf den Gedanken kämen, 99 Cent für ein Lied bei iTunes auszugeben, zahlen bereitwillig 99 Euro für ein Konzert. Traditionelle Medienhäuser müssen also Wege finden, um ihre Inhalte herum Erlebnisse aufzubauen, die einzigartig sind und einen Wert schaffen, den die Inhalte selbst verloren haben. Smartphones, Multimedia-Tablets und interaktives Fernsehen eröffnen eine schier unendliche Fülle an Möglichkeiten dazu – doch es genügt nicht, Printprodukte einfach anders zu verpacken, etwa als App für das iPad. Neue Medien verlangen neue Arten des Erzählens, neue Formen der Informationsvermittlung. Sie verlangen Umdenken und Innovation.

Die Chancen sind enorm; die Risiken ebenfalls: Stillstand bedeutet Rückschritt. Zeitschriften werden nicht von heute auf morgen verschwinden. Doch über kurz oder lang werden sie zum Nischenprodukt, ähnlich wie Vinyl-Schallplatten und DVDs. Die Zukunft gehört Informationen aus Bits und Bytes. Und der große Preis winkt dem, der sie am cleversten verpackt.

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Gewinner in der Digitalwelt sind anfangs leicht zu übersehen, da Nutzerzahlen meist exponentiell statt linear wachsen. Verlierer wiegen sich derweil in Sicherheit, weil sinkende Umsätze lange Zeit kontrollierbar wirken – bis das Geschäft abrupt einbricht. Der US-Videoverleih Blockbuster etwa verlor zwischen 2006 und 2009 lediglich 600 Mio. Dollar an Umsatz, ehe der Erfolg von Netflix und anderen Digital-Alternativen schlagartig das Unternehmen ruinierte: 2009 nahm Blockbuster noch 5,3 Mrd. Dollar ein, 2010 lediglich 4,2 Mrd. und musste Konkurs beantragen.

Am Erfolg von Flipboard, Pulse und ähnlichen Newsreader-Apps zeigt sich, wie die Aufbereitung von Inhalten wichtiger wird als Inhalte selbst: Nutzer wählen diese Programme danach aus, wie ansprechend sie Nachrichten präsentieren – Erfolg und Misserfolg entscheiden sich am Konsumerlebnis. Zeitgleich erkennen Händler und Hersteller eigene Apps, die wie Magazine auftreten, als Möglichkeit, Kunden direkt anzusprechen.

Was tun?

Für Verlage muss es darum gehen, bestehende Marken so schnell wie möglich digital neu zu erfinden und zugleich frische Geschäftsfelder zu erschließen. Beispiele:

  • Ein Kulturführer, der lebendig zeigt, was das Anschauen, Hinhören, Ausgehen lohnt: Als Mobil-App und im Browser erfahren Leser, welche Bücher, Filme, Lieder, Ausstellungen, Konzerte und Theaterstücke aktuell sind – Ortsbezug inbegriffen. Kauft oder reserviert jemand, verdient der Verlag daran mit.
  • Ein digitales Musikmagazin, bei dem das Erlebnis aus dem Zusammenspiel von Entdecken, Hören und Lesen besteht: Nutzer würden zunächst an die Musik herangeführt und könnten dann, wenn es sie interessiert, mehr über die Band dahinter erfahren.
  • Eine Reise-App, die das Erkunden der Welt und Sprachenlernen miteinander verbindet: Das User Interface stellt das Entdecken von Zielen durch interaktive Karten und Reiseführer in den Vordergrund. Die Community wird integriert, Nutzer können sich Tipps geben und Weggefährten finden. Spielerisch präsentierte Lektionen vermitteln Grundkenntnisse für Sprachen beliebter Reiseziele – wer mehr will, zahlt für weitergehende Kurse. Dazu noch Veranstaltungen mit Reise-Experten im ganzen Land, um Marke und Community zu stärken.
  • Service und Shopping: Apps, die Einkaufen mit Informieren kombinieren. Für die Einen das Neueste aus Mode und Kosmetik, für Andere aus Technik oder Lifestyle, präsentiert als unterhaltsame Mischung zum Stöbern, Anregen-Lassen und Shoppen. So könnte etwa eine App von Schöner Wohnen oder Living at Home dabei helfen, die Wohnung einzurichten – und im Zusammenspiel mit Augmented Reality-Technik wäre auf dem Display des Smartphones oder Tablets sofort zu sehen, wie die Möbel in der eigenen Wohnung aussehen würden.

Die größte Herausforderung besteht im innovator’s dilemma: In Zeiten schnellen Wandels haben etablierte Firmen nur dann eine Chance zu überleben, wenn es dem Neuen ausdrücklich erlaubt ist, das derzeitige Geschäft in Frage zu stellen. Das gilt am meisten für die Marktführer, die in der Regel dazu neigen, länger am Bestehenden festzuhalten als Herausforderer. Die Digitalrevolution aber belohnt jene, die vorangehen und Mut zeigen zum Experimentieren.

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